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Im Gespräch mit Claus Gatterer

Kurz nach der letzten Ausgabe von „teleobjektiv" führte die Wiener Stadtzeitung „Falter" Anfang 1984 ein langes Interview mit Claus Gatterer.


Als die Sendung „teleobjektiv" Ende Jänner vom König des Küniglberg eingestellt wurde, war ein letztes Reservat ernsthafter, kritischer TV-Arbeit beseitigt, Werner Vogt und Armin Thurnher sprachen mit Claus Gatterer, dem soeben von einer schweren Krankheit genesenen Leiter des „teleobjektiv", über seinen Werdegang, seine Zeit im ORF, die Prinzipien von „teleobjektiv", über Zivilcourage, politische Kultur und über Österreich.

Falter: Was für Argumente sind für die Einstellung von Teleobjektiv gebracht worden? Ich habe in den Zeitungen nicht sehr viele entdeckt.
Gatterer: Das Hauptargument war, das Teleobjektiv sei die private Spielwiese vom Gatterer. Das ist eigentlich das Hauptargument. Es ist ein Magazin ohne Linie, es weiß nicht, was es will. Es ist die private Spielwiese vom Gatterer, wo der Gatterer selber tut, was er will und die anderen tun läßt, was sie wollen.
Falter: Was ist eine private Spielwiese? Ist das näher definiert worden?
Gatterer: Da war nichts Näheres zu erfragen.
Falter: Und warum man was dagegen hätte auch nicht? Oder warum man gegen den Gatterer selber was hätte?
Gatterer: Nein, das war nicht zu erfragen, aber das hat seinen Grund wahrscheinlich in persönlichen Verhältnissen zwischen Bacher und mir.
Falter: Und wie sind die?
Gatterer: Der Bacher und ich sind sehr alte Freunde. Offensichtlich hat sich beim Bacher die Freundschaft in irgendetwas anderes verkehrt und er will mir nicht sagen, was es ist. Was sich nur auf dienstlichem Gebiet äußert, auf privatem nicht. Bei mir ist die alte Freundschaft da.
Falter: Wie kann man zu jemand eine Freundschaft haben, der einen erwürgt?
Gatterer: Aber ich fühle mich nicht erwürgt.
Falter: Aber die Sendung hat er umgebracht?
Gatterer: Ja, die Sendung hat er umgebracht, die hat ihm nie gepaßt.
Falter: Aber wie können Sie dann noch eine Freundschaft haben? Wie macht das der Südtiroler?
Gatterer: Das ist. eine schwierige Frage für mich. Wie würde der Gatterer handeln, wenn er in der Position des Bachers wäre?
Falter: Aber doch sicher nicht so wie der Bacher!
Gatterer: Sicher nicht so wie der Bacher, aber vielleicht wäre der Effekt derselbe. Der Gatterer würde natürlich reden, der Gatterer würde versuchen zu überzeugen.
Falter: Ihre Weltsicht und Ihre Interessen sind denen des Bacher wirklich sehr entgegengesetzt. Wie kann da eine Freundschaft existieren?
Gatterer: Die Freundschaft kam einfach zustande durch das wirklich jahrzehntelange Nebeneinander-Arbeiten.
Falter: Sie meinen, es ist eine kollegiale Arbeitsfreundschaft.
Gatterer: Ich sehe die Welt völlig anders, als sie der Bacher sieht. Trotzdem vertragen wir uns hervorragend.
Falter: Sie meinen, man kann mit ihm gut Essen und Trinken gehen.
Gatterer: Man kann mit ihm auch prima streiten.
Falter: Über Außenpolitik?
Gatterer: Auch über Außenpolitik! Auch über Geschichte!
Falter: Warum schließt dieser Streit aber so wenig Toleranzfähigkeit mit ein?
Gatterer: Das schließt eine Toleranzfähigkeit mit ein, und im privaten Gespräch ist sie auch da. Die Toleranz, die wir wenigstens teilweise miteinander gelernt und geübt haben, scheint ihm abhandengekommen zu sein, — vielleicht verführt Macht dazu, — aber es geht nicht allein ihm so. Ich habe es zum Beispiel nie verstanden, wie der Dalma hineinredigiert hat in die Presserundschau des Hörfunks. Das habe ich einfach nicht verstanden, bis heute nicht. Da soll doch der jeweilige Redakteur das aussuchen, soll auswählen.
Falter: Diese Verantwortlichkeit für das Medium muß sich ja irgendwie legitimieren, das heißt, der Bacher muß ja dann doch eine Legitimation Ihnen gegenüber zumindest in seinem Kopf haben, wenn er sie auch nicht ausspricht.
Gatterer: Fragt Macht immer nach Legitimation? Das ORF-Gesetz ist natürlich für die Generalintendanten eine Legitimation.
Falter: Eines ist aber interessant. Weil jetzt gerade zufällig Bacher und Dalma gefallen sind, und jetzt nehmen wir auch noch Sie dazu, irgendwie sind da drei gar nicht so unähnliche Schicksale. Alle drei kommen aus dem schreibenden Journalismus, gehen in das große Medium hinein und haben unterschiedliche Lebensläufe da drinnen. Aber warum überhaupt? Was hat Sie zum Beispiel dazu bewogen, vom Schreiben in dieses Medium zu wechseln?
Gatterer: Ich möchte dazu sagen: wir kommen alle drei nicht aus dem schreibenden Medium, sondern wir drei kommen alle von den Salzburger Nachrichten, das heißt, wir haben alle drei einen Chefredakteur gehabt.
Falter: Wer war das damals?
Gatterer: Der Canaval! Gustav Adolf Canaval, ein Vorleber, ein Vorschreiber, ein Vorbild, ein herrlicher Mensch, ein wunderbarer Choleriker, ein alter Austrofaschist und KZler mit einer wahnsinnigen Breite, mit einer wahnsinnigen Toleranz. Er hat ein einziges Mal dem Bacher einen Aschenbecher nachgeworfen. Ich weiß nicht warum.
Falter: Er hat ihn sicher nicht getroffen?
Gatterer: Nein! Und ich habe ein einziges Mal einen Konflikt gehabt mit ihm, und das war, weil ich gewagt habe, im Zusammenhang mit Alpbach den Namen Molden in den Salzburger Nachrichten zu erwähnen. Man durfte bei ihm alles schreiben, man hätte vielleicht sogar gut über Kommunisten schreiben dürfen, aber den Molden erwähnen, das war unmöglich damals.
Falter: Sie haben einen starken Hang zum Schreiben, das bedeutet Ihnen anscheinend sehr viel. Was führt so einen Menschen in dieses wahnsinnige Medium?
Gatterer: Das sind zum Teil private Gründe, daß ich wieder eine Anstellung angenommen habe. Ich habe zwischendurch als freier Schriftsteller gearbeitet, und daß ich zum Fernsehen gegangen bin, das war die ursprüngliche Faszination des Mediums, die Kombination der Ausdruckskraft des Bildes mit der Ausdruckskraft des Wortes, und dann einer unerhörten Disziplinierung des Textes. Man hat beim Fernsehen, beim Film, ganz einfach den Zwang, die Gedanken in der kürzesten und daher auch präzisesten Form ausdrücken zu müssen.
Falter: Ja, ja. Das stimmt. Es ist dann halt nur die Frage, gerade im Fernsehen, was das Fernsehen zum Beispiel für Möglichkeiten hätte gegenüber der geschriebenen Sprache, etwa eine Kultur der Rede, eine rhetorische Kultur, die fast verloren gegangen ist, wieder zu begünstigen. So zum Beispiel, wie Sie die letzte Sendung angesagt haben, da war so was drin. So eine Anstrengung und eine Trauer auch, was man eigentlich im Fernsehen nie. hat, was dann durch dieses Eingängige dann, scheint es, verschwindet und durch die Glätte, die der Nachrichtensprecher bringen muß.
Gatterer: Nein, so wie sich plötzlich ein Spiegelstil herausgebildet hat, so hat sich auch ein Fernsehstil herausgebildet. Eine meiner Ansicht nach kastrierte Sprache, die nicht gerade die Neckermannsprache ist, die ich den Südtirolern ankreide, aber doch so etwas Ähnliches.
Falter: Wie kommt man aus dem heraus?
Gatterer: Indem man man selber bleibt.
Falter: Und geht das dann gut, oder muß das immer so enden, wie es jetzt im Fall Teleobjektiv geendet hat?
Gatterer: Das fürchte ich.
Falter: Was kann man dagegen machen?
Gatterer: Vielleicht etwas, das in Österreich nicht gemacht worden ist, rechtzeitig beim ersten Alarm dagegen etwas zu unternehmen.
Falter: Können Sie uns Grundsätze von „Teleobjektiv" erläutern?
Gatterer: Wir haben zum Beispiel gesagt, wir wollen ein Magazin, das von der Bildsprache her anspricht, das auch eine gewisse Augenweide bildet, trotzdem wahr bleibt, trotzdem am Boden der Realität bleibt. Zweitens, wir wollen die Einheitssprache der Politiker vermeiden. Die vermeidet man dadurch, daß man den Politikern aus dem Weg geht und möglichst einfache Leute nimmt, und wenn man schon politische Leute nehmen muß, dann die Leute hinter den Politikern nimmt. Zweiter, dritter, vierter Rang. Diejenigen, die den Politikern einflüstern und nicht diejenigen, die jeden Tag oder jeden zweiten Tag ohnehin in Zeit im Bild sind. Dann haben wir zum Beispiel, wie das neue ORF-Gesetz gekommen ist, mit der Einführung des Kuratoriums, und der HSV, (Hörer- und Seher-Vertretung) beschlossen, daß Interviews mit-den Mitgliedern des Kuratoriums und der HSV nicht stattfinden, außer mit meiner Genehmigung, weil sich keiner von uns den Kollegen gegenüber vollkommen frei fühlen kann. Das sind sozusagen Richter, höhere Instanz. Das haben wir auch durchgehalten bis zuletzt. Wir haben zwei- oder dreimal aber Leute nehmen müssen, weil sie sozusagen die Fachleute waren, die Experten waren auf dem Gebiet. Ich glaube, die Konzentrierung, hauptsächlich auf die reale Welt, wie sie ist, also die Menschen unten, die normalen Menschen, die normalen Mitbürger, die Vermeidung, soweit es gegangen ist, von Politikern, Berufspolitikern, Berufsfunktionären aller Art und das Bemühen von der Kamera her, den Augen wirklich etwas zu bieten, das hat den ganzen Teleobjektivstil ausgemacht; und den Humor. Wir haben uns immer auch bemüht, besondere Gags einzubauen, um die Leute zum Lachen zu bringen. Denn wenn man irgendeinen Gegner lächerlich machen kann, ohne daß man ihn dadurch beleidigt oder schmäht, dann hat man, eigentlich viel mehr erreicht als wenn man mit den trockensten, aber begründetsten Argumenten gegen ihn vorgeht.
Falter: Wieviel Zeit konnten Sie wirklich am Küniglberg für Produktivität aufwenden, und wieviel mußten Sie Abwehrschlachten liefern, intrigieren, gegenintrigieren, horchen, bekämpfen, vor Gericht stehen? Das hat ja zwei Seiten: die eine ist, man bekämpft den Arbeitgeber, und eine zweite ist, man arbeitet.
Gatterer: Das ist schwer zu sagen. Ich weiß das nicht. Aber jedenfalls ist der Großteil der Zeit draufgegangen in das, was ich persönlich ganz allgemein in den Begriff Administration zusammenfassen würde. Wobei ich zum Beispiel eine Verhandlung vor der Kommission nicht als reine Administration betrachtet habe. Die gehört ja zur Arbeit, zum Thema. Und die spielten beide herein. Das Kämpfen gegen die latente Gefährdung hat eigentlich nicht so viel Zeit erfordert. Die Gefährdung ist ja sehr selten offen aufgetreten. Daher hat man in den seltensten Fällen die Möglichkeit, offen dagegen zu kämpfen. Das andere geschieht hinten herum.
Falter: Sie sind bei der Arbeit ziemlich erkrankt. Jetzt sind Sie Gottseidank wieder über dem Berg, es geht Ihnen jetzt gut und Sie sind gesund. Aber Sie sind ja als Mensch auch in diesem Bau oben krank geworden. Da muß doch irgendetwas passiert sein, oder sehen Sie da keinen Zusammenhang?
Gatterer: Ich sehe den Zusammenhang nicht. Ich habe mein Gewisser, gründlich er-forscht, ich habe sogar meine Tagebücher drei Jahre zurück, allerdings eher diagonal durchgelesen. Aber das Ereignis, oder die Ereignisserie habe ich nicht entdeckt. Ich muß auch noch sagen, bei allem Negativen habe ich das enorme Glück gehabt, eine ungeheure Mannschaft gehabt zu haben.
Falter: Sie meinen, Sie hätten diese Widerwärtigkeiten am Arbeitsplatz ganz gut überstanden, weil Ihr eben nicht allein wart. Ihr wart zusammen. Sie haben ein bißchen eine Vaterrolle gehabt.
Gatterer: Ich habe mich nie als Vater gefühlt, obwohl ich als väterlich bezeichnet wurde. Aber ich bin ein Mann, den der Umgang mit so vielen jungen Leuten eher wenig väterlich geraten hat lassen. Ich habe mich auch nie als Vater gesehen. Ich war Kollege wie sie.
Falter: Würden Sie Ihren Sohn im ORF arbeiten lassen?
Gatterer: Den würde ich nie ins Fernsehen hineinlassen.
Falter: Warum?
Gatterer: Weil das so wenig gründlich, auch zu gefährlich ist.
Falter: In welchem Medium kann man arbeiten?
Gatterer: Rundfunk, Zeitung. Vor dem Hörfunk habe ich einen ungeheuren Respekt. Der auch seine konkreten Begründungen hat Wenn man zum Beispiel auf eine Fernsehsendung Briefe bekommt, so sind diese Briefe schrecklich oberflächlich.
Falter: Ich habe als Student in so einem ORF-Seminar sehr oft den Satz gehört: der Zuschauer ist dumm.
Gatterer: Ich habe den Satz nie gehört. Ich habe allerdings auch nie einen Kursus mitgemacht. Aber natürlich gibt es Verständigungsbarrieren mit einem Teil des Publikums. Diese Verständigungsbarrieren kann man ganz einfach vermeiden, indem man alles vermeidetwas das Verständnis schwermacht. Zum Beispiel die Fremdwörter, diese politischen Schablonenwörter und so weiter.
Falter: Gibt es nicht so eine gewisse Haltung der Verachtung dem Publikum gegenüber? Die sind dumm. Daraus könnten zwei Haltungen folgen, eine pädagogische, wie Sie sie jetzt angedeutet haben und eine verächtliche.
Gatterer: Ich möchte diese Haltung nicht als pädagogisch betrachten, weil ich kein Schulmeister bin und mich auch nie als solchen gesehen habe. Die Aufgabe der Medien auch nicht. Ich sehe sie als ethische, aber nicht als pädagogische Aufgabe an. Aber mir ist ganz einfach jede Überheblichkeit den Menschen gegenüber zuwider. So bin ich hier im Krankenhaus, mit jedem rede ich, ich weiß nicht, was sein Zivilberuf ist, denn wir schauen alle gleich aus, Gottseidank. Da sind wir wirklich eine klassenlose Gesellschaft. Und hier, wie ich mit jedem rede, so will ich übers Fernsehen mit jedem kommunizieren. Ich glaube, das ist uns mit dem Teleobjektiv gelungen.
Falter: Würden Sie sagen, daß Teleobjektiv eine parteiliche Sendung war?
Gatterer: Ja, würde ich schon sagen, aber nicht parteilich im Sinn von Parteipolitik und nicht parteilich im Sinn von sozialpartnerschaftlichen Einrichtungen, sondern wir haben einfach geschaut, bei den einfachen Leuten zu sein, mit den einfachen Leuten zu sein.
Falter: Ist das eine Parteilichkeit, die bereits gegen das Rundfunkgesetz verstößt, könnte man etwas spitz fragen?
Gatterer: Wir sind jedenfalls deswegen nie verurteilt worden.
Falter: Im Grund genommen dürfte es ja nicht einmal das geben, wenn man den Grundsatz der Ausgewogenheit ernst nimmt.
Gatterer: Doch, natürlich darf es das geben, aber der Grundsatz der Ausgewogenheit, da kämen wir jetzt in die ganze Frage der Taktik hinein, die das neue ORF-Gesetz mit all seinen Bestimmungen und so weiter erfordert. Die Ausgewogenheit ist umso leichter herzustellen, je konkreter die Geschichte ist, die ich mache und je konkreter die Geschichte gemacht wird.
Falter: Spielt nicht diese Ausgewogenheit oft gerade in der ORF-Taktik eine entscheidende Rolle, um Sachen totzumachen oder zu verhindern?
Gatterer: Sicher! Mir sind konkrete Fälle nicht bekannt, muß ich sagen, im Moment, vielleicht fällt es mir auch nur nicht ein, aber das ist sicher der Fall.
Falter: So erzeugt man ein Denken: Wie muß ich es machen, nicht um der Sache gerecht zu werden, sondern auch um diesem Fetisch „Ausgewogenheit" gerecht zu werden.
Gatterer: Nicht nur der Journalist ist so. Das geht durch, durch die Unterhaltung, das geht durch. Kabarettsendungen werden ja zumindest in Einzelfällen der Rechtsabteilung vorgelegt. Ich habe mich nie der Rechtsabteilung vorlegen lassen, wenn ich einen Zweifel gehabt habe, habe ich die Rechtsabteilung geholt — rechtzeitig, aber da habe ich dann die Frage bestimmt. Das ORF-Gesetz ist viel besser als sein Ruf, und das Teleobjektiv hat nur mit dem ORF-Gesetz so lange gelebt.
Falter: Aber wenn es einen Druck gibt, leisten die, die unter dem Druck stehen, immer noch mehr, als eigentlich verlangt ist.
Gatterer: Natürlich, die Redakteure haben Angst, und deswegen zensieren sie sich schon selber. Der Mann der, für das Schauspiel verantwortlich ist, der denkt sich, aha, Linker, bei der Steirischen Gruppe dabei, befreundet mit dem — besser nicht anrühren, und so weiter. Oder das Thema liegt schief, vielleicht ist kein ausgewogener Großvater drinnen, passen wir auf.
Falter: So viele Öffentlichkeitsarbeiter des größten Mediums werden in dieser Form präformiert und deformiert. Was bedeutet das für die politische Entwicklung in einem Land?
Gatterer: Für die politische Entwicklung ist es katastrophal, und für mich persönlich ist es eine der größten Enttäuschungen. Ich persönlich habe nie an das Wort Zivilcourage geglaubt, weil ich das als Selbstverständlichkeit betrachtet habe. Offensichtlich braucht es die.
Falter: Wie funktioniert die Willensbildung im ORF, von unten nach oben, von oben nach unten, wenn man die Leute so selten zu Gesicht kriegt?
Gatterer: Da bin ich überfragt, weil ich nicht erst in den letzten Jahren, sondern eigentlich immer am Rande der ORF-Gesellschaft gelebt habe, und zwar aus einem Grund: ich wollte nicht in die Intrigen hineingezogen werden. Wenn du zur Hauptmahlzeit, also zwischen zwölf und eins essen gehst, dann bist du unweigerlich in der Masse und in der Intrige drinnen. Wenn du zwischen halb zwei und zwei essen gehst, dann sitzt du allein, hast deine Ruhe und kriegst keine Intrige mitserviert.
Falter: Das heißt, die Willensbildung findet in der Kantine statt!
Gatterer: Sehr viel. Aber nicht die wesentliche.
Falter: Mit ist unklar, was Bacher für die Sozialdemokraten attraktiv macht. Ich weiß es nicht, es täte mich wirklich interessieren. Ich kann mir das nicht vorstellen.
Gatterer: Ich weiß es auch nicht, was ihn attraktiv macht, aber offensichtlich ist es ihm gelungen. Vielleicht die Freundschaft mit dem Zilk. Es ist wahrscheinlich eine Verhaberung, ich möchte es nicht als Freundschaft bezeichnen. Aber eine persönliche Verhaberung ist oft sehr viel wichtiger als alles andere.
Falter: Wobei man in Ihrem Fall unterscheiden könnte zwischen Freundschaft und Verhaberung, was die Resultate betrifft.
Gatterer: Haberer bin ich keiner. Mit mir kann man sicher Rösser stehlen, wenn es die Sache wert ist, aber Haberer bin ich keiner.
Falter: Bloch hat einmal von Kältestrom und Wärmestrom im Marxismus gesprochen. Gibt es so etwas im ORF auch? Könnte man dann vielleicht Ihre Sendung dem Wärmestrom zurechnen?
Gatterer: Ich kenne das Programm zu wenig. Ich kann nicht sagen, ob es so ist. Ich war dabei, sowohl im Hörfunk, als auch im Fernsehen. Die Frage nach dem Wärmestrom ist eine reine Frage nach der Person. Die Leitenberger hat mich also einen Linken genannt, lieh bin ein Linker, weil ich an den Menschen glaube, und wer nicht an den Menschen glaubt, kann keinen Wärmestrom erzeugen.
Falter: Dann gibt es aber im ORF auch nicht sehr viele, die das können. Sie bezeichnen sich als Linker. Haben Sie, wie Sie jung waren, auch einmal parteipolitisch gearbeitet
Gatterer: In der Südtiroler Volkspartei. Ich war dort ein Linksaußen.
Falter: Könnten Sie sich heute noch vorstellen, für die Südtiroler Volkspartei zu arbeiten?
Gatterer: Eigentlich eher nein, es wäre doch zu eng.
Falter: Ihre Biographie ist eine konservative Biographie, kann man sagen. Wie und wann wird daraus ein Linker?
Gatterer: Ich weiß nicht! Natürlich komme ich aus einem wahnsinnig religiösen, wahnsinnig konservativen Haus, einem stark antinazistischen Haus und Antifaschismus und Antinazismus haben dann mit der Universität in Padua zunächst einmal natürlich schon eine Ausbuchtung nach links bewirkt. Ich könnte nicht sagen, ich bin von heute auf morgen links geworden.
Falter: Ich glaube, Sie haben sich eher hinübergeschwindelt. Ihr Interesse dafür, Ihr starkes historisches Interesse.
Gatterer: Mein starkes historisches Interesse, ja, aber dann auch mein historisches Interesse an den Arbeiterbewegungen. Von vor¬ne herein und ohne jeden Zwang. Die Witwe von Cesare Battisti hat mich aufmerksam gemacht auf ihren Freund und ihres Mannes Freund, den Historiker Salvemini. Der Salvemini war eigentlich, obwohl ich ihn persönlich nicht kennengelernt habe, seine Bücher waren mein Geschichtslehrer. Ich muß wirklich sagen Lehrer, und der Salvemini ist ein Linker. Der hat sicher sehr viel dazu beigetragen, wobei er ein linker Moralist ist, vergleichbar in etwa, in manchem vergleichbar, sogar dem Karl Kraus.
Falter: Gibt es Verbindungen zu gewissen linkskatholischen Kreisen, die in Österreich immer sehr schwach waren?
Gatterer: Sehr starke!
Falter: Waren die prägend?
Gatterer: Fritz Heer war sicher prägend.
Falter: Wie schaut es dann aus Ihrer Perspektive aus im Nachkriegsösterreich?
Gatterer: Es ist so schwer, dieses Nachkriegsösterreich zu kritisieren. Es gibt so furchtbar vieles, was mir nicht gefällt und trotzdem, nachdem alles gut geht, das ist wie bei einem Schirennen. Du machst da Fehler, du machst dort Fehler, aber wenn du gewinnst, dann bist du eben Erster, oder wenigstens Zweiter, dann stehst am Stockerl. Und so ist es mit diesem verdammten Österreich, das ich so schrecklich gern habe. Mich ärgert die Presse, mich ärgert diese ganze Gschisti-Gschastlerei um die Theater. Mich ärgert der Provinzialismus, mich ärgert die geistige Enge. In Padua ist schon mehr los, in Bosnien in gewissen Kreisen ist schon mehr los als da. Das ist oft zum Verzagen, da möchte ich auswandern, und dann hält mich doch wieder alles fest. Der Staat ist ja für die Leute da, und wenn der Staat den Leuten ein anständiges Leben sichert, ist der Staat, so \schlecht er ist, gut. Das, was ich am österreichischen Staat schätze, was ich wahnsinnig gerne habe, ist, daß er kein Patriotismusstaat ist, daß er kein Hurra, keine Zeremonien verlangt. Er verlangt nicht einmal, daß ich die Bundeshymne mitsingen kann. Ich habe sogar einmal einen Unterrichtsminister erlebt, der sie nicht konnte. Er war allerdings kein Ostösterreicher. Und dann dieses Kuriose, die nicht faßbare Grundidee dieses Staates. Wenn man sich diesen Staat anschaut und in seinen Teilen anschaut, so ist der Staat eigentlich nur dazu da, damit die neun Bundesländer das sein können, was sie sind. Wenn es Österreich nicht gäbe, wäre Tirol ein Stück Bayern, wäre Kärnten ein Stück Italien und Jugoslawien, wäre Salzburg Bayern, wäre Oberösterreich Bayern, nur Oberösterreich und Tirol gäbe es dann nicht. Das ist geschichtlich alles schon gespielt worden, es ist alles schon geplant worden, war alles schon da, bis hin zu Korridoren von Prag bis ins Burgenland und Ostösterreich bis hinunter nach Jugoslawien. Und das macht den kleinen Staat so groß.
Wenn sich die Geschichte einen solchen Zwischenstaat ausgedacht, wenn sie einen solchen Zwischenstaat erschaffen hat, muß man ihn doch gern haben und mitzutragen versuchen.

Claus Gatterer, Professor, geboren 1924 in Sexten (Südtirol). Studium der Philosophie und Geschichte in Padua. 1945—47 erste publizistische und politische Tätigkeit in Südtirol seit 1948 Journalist in Österreich. Redakteur der „Tiroler Nachrichten", der „Salzburger Nachrichten", des „Forum", stellvertretender Chefredakteur des „Expreß", Ressortleiter für Außenpolitik der „Presse". Seit 1972 beim Rundfunk, seit 1974 Leiter der ständigen Fernsehreihe „teleobjektiv", die 1984 eingestellt wurde. Zweimal Theodor-Körner-Preis, zweimal Dr.-Karl- Renner-Preis für Publizistik, Fernseh-Preis der österreichischen Volksbildung, Preis der Stadt Wien für Publizistik, Preis der Südtiroler Presse 1980 für seinen Beitrag zur Aussöhnung der Volksgruppen. Buchveröffentlichungen u.a.: Unter seinem Galgen stand Österreich. Cesare Battisti, Porträt eines „Hochverräters" (Europaverlag) 1967), Im Kampf gegen Rom. Bürger, Minderheiten und Autonomien in Italien (Europaverlag 1968), Erbfeindschaft Italien — Österreich (Europaverlag 1972).